Individualisierung ist einer der Trends, die heutzutage aufgrund ihrer jahrzehntelangen Entwicklung als Megatrend bezeichnet werden. Ist nun dieser Megatrend der Individualisierung für produzierende Unternehmen ein Risiko, eine Herausforderung oder eine Chance? Für die meisten Unternehmen trifft dies alles zu. Der Megatrend benötigt neue Fähigkeiten der Mitarbeiter und der Organisation. Er ermöglicht neue Geschäftspotentiale. Gleichzeitig stellt er aber auch eine Bedrohung für die Unternehmen dar, die sich dem Trend nicht rechtzeitig anpassen. Im ersten Teil des Beitrages hatten wir den Fokus daraufgelegt, verschiedene Bestandteile des Trends zu beleuchten, dabei insbesondere den Aspekt der Mass Customization. In zweiten Teil wollen wir nun auf die benötigten Fähigkeiten eingehen, die die Individualisierung den Unternehmen abverlangt.
Business Capabilities: Wie Individualisierung und Fähigkeiten des Unternehmens zusammenhängen
Eine Fähigkeit ist nicht nur auf das Kennen und Können von Personen beschränkt: Die Business Capability definiert die Fähigkeiten eines Unternehmens, erfolgreich seine Kernaktivitäten durchzuführen (Sekundärquelle, Seite 10). Diese bauen natürlich zum einen auf den Fähigkeiten der Mitarbeiter und deren individuellen Erfahrungen auf. Sie basieren aber auch auf den Möglichkeiten der Organisation, das heißt auf deren Ressourcen, Methoden, Prozesse und IT-Mittel.
Die folgende Abbildung zeigt anhand eines Projektbeispiels bei einem global agierenden Konzern, wie die Fähigkeiten aus den wichtigsten Trends abgeleitet wurden.
Wenn ein Unternehmen nun in der Lage sein will, variantenbehaftete Produkte oder sogar individualisierte Produkte anzubieten, dann sind jene Capabilities in den verschiedensten Unternehmensbereichen erforderlich. Erst dann lassen sich die neuen Geschäftspotentiale erschließen.
Die Fähigkeit, ein variantenbehaftetes Produkt zu entwickeln
Um variantenbehaftete Produkte effizient entwickeln zu können, ist ein hoher Gleichteileanteil anzustreben. Dazu müssen die Produkte so zu Baureihen beziehungsweise Plattformen zusammengefasst werden, dass eine Gleichteilestrategie optimal umgesetzt werden kann. Beispiele finden sich unter anderem bei den Automobilherstellern, wie etwa bei BMW.
Um auch baureihenübergreifend den Anteil an Gleichteilen zu erhöhen, sollte ein baureihen- und produktspartenübergreifendes Baukastenmanagement eingesetzt werden. So können beispielsweise in der Landwirtschaftstechnik auch umfangreiche Baukästen wie ein Getriebe oder die Elektronik-Bedienung in unterschiedlichen Baureihen, Marken oder Produktgruppen (Traktor, Mähdrescher) eingesetzt werden. Als Beispiel bietet sich hier der Landmaschinenkonzern Agco an, bei dem die Getriebe und Motoren innerhalb des Konzerns in verschiedenen Marken wie Fendt und Massey Ferguson eingesetzt werden. Das elektronische Bedienkonzept Variotronic wird sowohl bei Traktoren als auch bei Mähdreschern eingesetzt. Als weiterer Vertreter der Automobilindustrie hat Volkswagen sein Plattform-Konzept weiterentwickelt und setzt ebenfalls auf das Konzept der Baukästen.
Das Management von Gleichteilen auf Einzelteilebene ist schon seit Beginn des Einsatzes von Produktdatenmanagement-Systemen eine der Hauptaufgaben. Dennoch scheitert ein unternehmensweites Gleichteilemanagement – gerade bei größeren Unternehmen mit unterschiedlichen Divisionen – häufig noch an Systemgrenzen. Ein zentrales Stammdatenmanagement schafft hier die Möglichkeit, der Teilevielfalt Einhalt zu gebieten. Kombiniert man diese Stammdaten zusätzlich mit Prognosedaten, so befähigt man Logistik und Einkauf, besser zu planen und bessere Konditionen bei der Beschaffung zu realisieren.
Die Fähigkeit, ein individuelles Produkt zu entwickeln
Betrachtet man ihre Entwicklungsprozesse, liegen sehr große Unterschiede zwischen variantenbehafteten Produkten und wirklich individuellen Produkten. In dem einen Fall kann die Entwicklungsabteilung die Entwicklung komplett durchführen. Im anderen Fall können bestimmte Entwicklungs- und Absicherungsleistungen erst erfolgen, wenn der Kunde die Anforderung geäußert hat. Die Fähigkeit zur Entwicklung wirklich individualisierter Produkte erfordert zudem weitere Teilprozesse und eine andere Organisation.
Während die Plattformentwicklung die Produktstandardisierung verfolgen muss und dies im Voraus initiieren kann, hat die kundenindividuelle Entwicklung die Aufgabe, schnell und flexibel auf die Kundenanforderungen zu reagieren. Das hat nicht nur unterschiedliche Prozesse zur Folge, sondern auch gewisse Interessenskonflikte. Etwas Reibung zwischen diesen verschiedenen Interessen kann auf der Suche nach der optimalen Lösung enorm förderlich sein. Die Aufgabe, diese Ideallösung zu finden, sollte allerdings keiner Abteilung zufallen, da dies den Prozess eher behindern könnte. Wir empfehlen daher eine organisatorische Trennung zwischen Plattformentwicklung einerseits und kundenspezifischer Entwicklung andererseits.
Insbesondere im B2B-Umfeld ist es notwendig, dass der Kunde seine Produktwünsche in einer möglichst standardisierten Form einsteuern kann und er dabei die notwendige Unterstützung erfährt. Diese muss in Koordination mit dem Vertrieb erfolgen. Beispielhaft ist hier der finnische Traktor-Hersteller Valtra, der mit dem Valtra Unlimited Studio seinen Kunden die Möglichkeit bietet, beliebige Wünsche einsteuern zu können.
Von zentraler Bedeutung ist in diesem Kontext das übergreifende Änderungsmanagement im Unternehmen: Änderungen an den Möglichkeiten des Standards müssen der kundenspezifischen Entwicklung bekannt sein, damit sie entsprechend berücksichtigt werden können. Im anderen Fall sollten innovative kundenspezifische Entwicklung auch über den Änderungsprozess im Standard integriert werden.
Die Fähigkeit der IT zur Daten-Verwaltung
Die Durchgängigkeit der Produkt- und Konfigurationsdaten über den kompletten Prozess und den gesamten Lebenszyklus muss sichergestellt sein: Von der Produktidee über den Start of Production beziehungsweise Montage bis hin zum Ende der Nutzung. Entwicklung und Vertrieb müssen hier involviert sein, aber auch der Einkauf und das Ersatzteilwesen. Außerdem müssen die unterschiedlichen Disziplinen Mechanik, Elektrik, Elektronik und Software miteinander verbunden sein.
Das Unternehmen muss in der Lage sein, Big Data aus Produktion und Produktnutzung zu verwalten und diese mit Produktdaten und Kundendaten zu verbinden. Produktdaten und Kundendaten sind im Zusammenhang mit der Individualisierung letztlich das Grundgerüst, das viele Auswertungen mit Big Data-Informationen überhaupt erst ermöglicht.
Die Fähigkeit zur Entwicklung komplexer Systeme
In der Vergangenheit haben die meisten Unternehmen Produkte entwickelt, die hauptsächlich mechanisch waren. Erst im Anschluss kamen zunehmend größere Anteile der Elektrik, Elektronik und Software hinzu. Produktentwicklungen wurden aber immer noch durch die Entwicklungsabteilung allein angetrieben. Den Anstoß zur Entwicklung komplexer Systeme aus Dienstleistungen, IoT-Features, Software und Mechanik geben hingegen heute meist Geschäftsmodellinnovationen. In der Richtung der Individualisierung ist das eine völlig neue Vorgehensweise, die dennoch im Unternehmen verortet sein muss.
Die Entwicklung komplexer Systeme benötigt natürlich zahlreiche neue individuelle Skills, zum Beispiel im Bereich Software-Entwicklung, IoT und Cyber-Security. Außerdem erfordert die Entwicklung komplexer Systeme die Fähigkeit, unterschiedlicher Bereiche integrativ zusammenarbeiten zu lassen und sie zu koordinieren. Experten mit den angesprochenen individuellen Skills müssen mit Kollegen kooperieren, die schon seit 15 oder 20 Jahren klassische Produkte entwickelt haben. Dabei sollen zudem auch Design Thinking und agile Methoden in der Produktentwicklung angewandt werden.
Die Fähigkeit von Entwicklung und Controlling, die Kosten zu ermitteln
Viele Unternehmen bieten ihre Standard-Varianten zu teuer und ihre Speziallösungen zu billig an. Ein Unternehmen muss unter anderem deshalb in der Lage sein, die durch Varianz und individuelle Komponenten verursachten Produktkosten, Prozesskosten und Komplexitätskosten zu ermitteln. Diese Kalkulation bietet den Unternehmen die Basis, auf der sie dem Kunden das Produkt zu angemessenen Konditionen anbieten kann. So finden sie auch heraus, ob und welche Produktvarianten gestrichen werden können, denn viele Varianten sind überhaupt nicht kundenwirksam. Erst ein Blick auf die realen Kosten hilft dabei, tatsächliche Entscheidungstransparenz zu schaffen.
Das Unternehmen benötigt dann IT-Lösungen, die es ermöglichen, die Kosten im Angebotsfall möglichst schnell zu ermitteln. Für die Kostenermittlung eines Standardproduktes steht zunächst verhältnismäßig viel Zeit zur Verfügung. Wenn man aber kundenindividuelle Produkte anbieten will, muss man schnell aussagefähig sein, um den Kunden eine Hausnummer für die Kosten seines Anpassungswunsches zu nennen. So manch ein Sondermaschinenbauer steht einer noch größeren Herausforderung gegenüber, beispielsweise wenn der Kunde das Produkt bereits einsetzt und eine Umrüstung will. Damit stellt sich wiederum eine Frage, die nicht alle Unternehmen ad hoc beantworten können: Welchen technischen Stand hat denn die beim Kunden eingesetzte Maschine? Diese Anfrage verdeutlicht, wie elementar eine effiziente Datenvernetzung wirklich ist – und was es im Detail bedeutet, welche Anforderungen die Individualisierung an die Fähigkeiten des Unternehmens stellt.
Die Fähigkeit zur Absicherung in Entwicklung und Prototypenbau
Bei steigender Varianz und Zunahme der technischen Möglichkeiten geht der Trend dahin, das Produkt virtuell abzusichern. Die Lösung besteh darin, zunächst einen digitalen Zwilling statt echter Prototypen zu produzieren. Denn ein physikalischer Prototyp ist extrem teuer. Mit virtuellen Absicherungen lassen sich dementsprechend Kosten und Entwicklungszeit einsparen – und gleichzeitig viel mehr Varianten absichern. Besonders in der Automobilindustrie wird dieses Konzept schon seit mehreren Jahren erfolgreich eingesetzt.
Dabei ist insbesondere das Zusammenspiel der virtuellen Absicherung mit der Variantenkonfiguration wichtig, damit auch alle Produktvarianten abgesichert werden können. Dabei geht es nicht nur um die Produktabsicherung an sich: Auch der Fertigungs- und Montageprozess lässt sich immer besser virtuell absichern.
Die Fähigkeit der Serviceabteilung, den Service für ein individualisiertes Produkt durchzuführen
Bei der Produktion und jedem Serviceeingriff muss die Installed Base, das heißt die Dokumentation des aktuellen Zustands des Produktes, angepasst werden. Besonders eindrücklich wird dies, wenn selbst Automobilhersteller heute häufig nicht genau wissen, welche Fahrzeuge betroffen sind, wenn sie eine Rückrufaktion starten. Sondermaschinenbauer analysieren immer noch Zeichnungen, fragen ihre Kunden oder schicken einen Techniker mit einer Digitalkamera zum Kunden um das herauszufinden.
Wenn man mit variantenreichen oder individualisierten Produkten professionellen Service anbieten und damit Geld verdienen will, benötigt man Informationen über die verbauten Teile. Der Service braucht Zugriff auf die Installed Base, damit er bereits vor der Fahrt zum Kunden darüber Bescheid weiß, was ihn dort erwartet. So ist auch im Voraus klar, welche Ersatzteile er gegebenenfalls mitnehmen muss. In Zukunft sollen digitale Zwillinge helfen, Fehlersituationen virtuell nachzustellen, um so Stillstandzeiten zu minimieren und den Serviceaufwand zu reduzieren.
Wie Sie Ihre Business Capabilities und neue Geschäftspotentiale erschließen
Der Megatrend Individualisierung ist eines unserer Schwerpunktthemen im Fokus-Team Projects & Processes for Engineering. Wir unterstützen Unternehmen dabei, die benötigten Fähigkeiten auf- und auszubauen, die durch die verschiedenen Auswirkungen der Individualisierung unerlässlich geworden sind. Direkt als Einstieg bieten wir Kunden einen zwei- bis dreitägigen Inhouse Workshop an: Vor Ort erarbeiten wir dabei mit dem Kunden gemeinsam die spezifischen Auswirkungen auf sein Unternehmen und leiten erste Capabilities auf grober Ebene ab.
(Coverbild: © tashatuvango | AdobeStock)